Warum ist unser Bauchgefühl oft ein schlechter Ratgeber in Finanzfragen? Dieser Frage widmete sich Prof. Dr. Jochen Ruß vom ifa-Institut auf der Stuttgarter Veranstaltungsreihe „Erfolgsgeschichten 2024“. Als Referent gab er Tipps, wie man es schafft, dass Kunden das, was gut für sie ist, auch gut finden.
Instinkte aus der Steinzeit
In jüngerer Vergangenheit hat sich in den Wirtschaftswissenschaften die Erkenntnis durchgesetzt, dass Menschen nicht alle Entscheidungen vollständig rational treffen. Hiermit beschäftigt sich die sogenannte Verhaltensökonomie. Eine Erkenntnis ist, dass das irrationale Verhalten oft nicht willkürlich ist, sondern gewissen „Verhaltensmustern“ folgt, die sich auf unterschiedliche Weise erklären lassen. Teilweise durch unterbewusste Entscheidungen, teilweise aber auch durch „Instinkte“ oder „Bauchgefühl“, was uns von der Natur in grauer Vorzeit antrainiert wurde.
Ein Beispiel ist die sogenannte Verlustaversion. Dies bedeutet vereinfacht gesagt, dass der Ärger über einen Verlust größer ist als die Freude über einen Gewinn in der gleichen Höhe. Typischerweise übersteigt der Ärger die Freude um einen Faktor 2,5. Wenn jemand also 100 Euro geschenkt bekommt und diese dann später wieder verliert, dann ist er unglücklicher als am Anfang, obwohl er genau so viel Geld besitzt wie vor dem Geschenk.
Die Verlustaversion führt dazu, dass Menschen Geldanlagen, die schwanken können, wenig attraktiv finden. Denn wenn auf einen Zuwachs von beispielsweise 10 % ein Kursrückgang von 5 % folgt, so dominiert in der Wahrnehmung oft der Ärger über den Kursrückgang – obwohl man unterm Strich im Plus ist.
Die Natur hat uns die Verlustaversion in grauer Vorzeit aber aus gutem Grund antrainiert, da diese damals überlebensnotwendig war. Hatte ein Jäger beispielsweise ein Tier erlegt, um davon seine Familie zu ernähren, so hätte der Verlust dieses Tieres Hunger oder gar Tod bedeutet. Der Zugewinn eines weiteren Tieres wies hingegen (Mangels Kühlschränken und Konservierungsstoffen) wenig Nutzen auf.
Es gibt viele Beispiele, wie Menschen schlechte Entscheidungen treffen, weil die Instinkte, die uns die Natur über Jahrtausende antrainiert hat, für moderne Finanzprodukte nicht geeignet sind. Die gute Nachricht ist, dass man bedarfsgerechte Altersvorsorgeprodukte so erläutern kann, dass diejenigen Verhaltensmuster, die zur Ablehnung bedarfsgerechter Produkte führen, weniger stark aktiviert werden. Dies kann dann dazu führen, dass die Akzeptanz der bedarfsgerechten Produkte steigt.
Beispiel 1: Akzeptanz chancenreicher Produkte
Rationalerweise sollten auch sicherheitsorientierte Menschen bei langfristigen Sparprozessen (um die es in der Altersvorsorge ja geht) chancenreicher anlegen und daher keine allzu hohen Garantien wählen.[1] Die Verlustaversion sorgt aber dafür, dass ein Garantieniveau von beispielsweise 70 % oder 80 % der Beiträge wenig attraktiv wirkt, denn das Bauchgefühl reagiert nur auf den möglichen (!) Verlust und bewertet den auch noch um einen Faktor 2,5 höher als einen möglichen Gewinn.
Eine Lösung bei sogenannten Hybridprodukten besteht darin, dem Kunden nicht zuerst die Frage zu stellen, welches Garantieniveau er gerne hätte, sondern zunächst zu erläutern, dass das Produkt aus einer chancenreichen (aber daher auch schwankenden) Anlage besteht sowie aus einer stabilen Komponente, die aber wegen der Stabilität langfristig deutlich weniger Renditechancen hat. Stellt man nach dieser Erläuterung die Frage „Welchen Anteil Deines Geldes dürfen wir für Dich chancenreich anlegen“, so wählen diejenigen Menschen, die bei Wahl des Garantieniveaus die höchstmögliche Garantie gewählt hätten, oft eine Quote von 50 % oder knapp unter 50 %. Sie suchen hier also eher die Mitte (oder wollten ein wenig vorsichtiger sein als der „Durchschnitt“). Erläutert man anschließend, dass man diese Anlagequote erreicht, wenn man ein entsprechend abgesenktes Garantieniveau auswählt, dann wird die niedrigere Garantie oft akzeptiert – denn sie ist nun eine Konsequenz des eigenen Anlagewunsches.
[1] Warum das so ist, haben wir in einer Studie ausführlich dargelegt: www.ifa-ulm.de/Studie-Inflation.pdf
Beispiel 2: Durchdringung mit bAV
Ein beeindruckendes Beispiel, wie die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie bereits in großem Stil genutzt werden, stellt das „Save More Tomorrow“-Programm dar. Dies wurde in den USA von den beiden Wissenschaftlern Richard Thaler (der auch einen Nobelpreis für seine Forschung zur Verhaltensökonomie erhalten hat) und Shlomo Benartzi entwickelt. Letzterer zeigt auf dieser Seite laufend aktualisiert die Anzahl der Menschen, die an dem Programm teilnehmen – derzeit (April 2024) über 15 Millionen).
Thaler und Benartzi haben im Wesentlichen zwei Verhaltensmuster identifiziert, die dazu führen, dass viele Arbeitnehmer keine betriebliche Altersversorgung abschließen bzw. einen zu niedrigen Beitrag einbezahlen. Neben der Verlustaversion (der umgewandelte Teil des Gehalts wird als Verlust empfunden, da man danach jeden Monat weniger Geld zur Verfügung hat als vorher) ist hier noch die sogenannte Gegenwartspräferenz relevant. Diese besagt (stark vereinfacht), dass man alles Schöne sofort haben möchte und alles Unangenehme in die Zukunft schiebt. „Gehalt jetzt“ gegen „Rente in Zukunft“ zu tauschen wirkt daher wenig attraktiv.
Das „Save More Tomorrow“-Programm ist so ausgestaltet, dass diese Verhaltensmuster einfach und unbewusst überwunden werden. Im Wesentlichen wird hierbei zunächst ein bAV-Vertrag mit einem sehr niedrigen Beitrag vereinbart, um die Verlustaversion zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zu umgehen. Im Gegenzug wird aber vereinbart, einen großen Anteil künftiger Gehaltserhöhungen zur Beitragserhöhung zu verwenden. Dieser Vereinbarung kann jederzeit widersprochen werden, was in der Praxis aber (zumindest, solange die Beiträge nicht übermäßig hoch werden) selten vorkommt.
Auch hierdurch wird die Aktivierung der Verlustaversion umgangen. Denn während ein heutiger Beitrag das gewohnte regelmäßige Einkommen reduziert und als Verlust wahrgenommen wird, wird die Umwandlung eines Teils der zukünftigen Gehaltserhöhung lediglich als entgangener Gewinn wahrgenommen (und dadurch unterbewusst deutlich geringer gewichtet als ein erlittener Verlust). Da darüber hinaus die Beitragserhöhungen in der Zukunft liegen, wird auch die Gegenwartspräferenz umgangen.
Auch wenn Save more Tomorrow nicht unmittelbar auf die bAV in Deutschland übertragen werden kann, zeigt dieses Beispiel doch beeindruckend, dass die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie genutzt werden können, um Menschen zu helfen, bessere Entscheidungen zu treffen.