Der Wissenschaftliche Beirat hat in seiner neuesten Stellungnahme zu einem neuen Anlauf für die kapitalgedeckte Rente durch eine Riester-Reform wichtige Argumente für die Vorsorge-Diskussion aufbereitet. Teil 1 geht der Frage nach, warum der Staat regulierend eingreifen sollte.
Er hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, warum der Staat überhaupt bei der Altersversorgung in Form eines Obligatoriums „intervenieren“ soll. Wäre es nicht besser, wenn jeder Einzelne entscheidet, ob er Ersparnisse für ein hinreichendes Arbeitseinkommen bilden soll?
Drei Argumente sprechen aus Sicht des Beirats für eine Intervention der Politik.
1. Das Informationsdefizit
Häufig werden fehlende Kenntnisse über Finanzmärkte und Anlageformen in Teilen der Bevölkerung als Argument für den Staatseingriff genannt. Allerdings wäre dann weder die Schaffung eines Kapitalstocks noch ein staatlich verwalteter Fonds das erste Mittel der Wahl. Der Staat könnte durch Bereitstellung von Informationen das Defizit beheben. Studien dazu, ob und wie solche Interventionen tatsächlich das Spar- und Anlageverhalten von Erwachsenen ändern, kommen allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen … Ein wichtiger Faktor ist die Vermeidung von Komplexität bei der Bereitstellung von finanziellen Informationen und Handlungsregeln; einfache Schulungsprogramme und Daumenregeln erhöhen die Wirksamkeit der Informationsbereitstellung gegenüber umfassenderen, komplexeren Ansätzen. Komplementär zu einer erhöhten Finanzmarktkompetenz der Bevölkerung wirken Produktstandards, die die Orientierung im komplexen und vielschichtigen Anlagemarkt erleichtern.
Zwischenruf
Hier stellt sich in der Praxis allerdings sofort die Frage: Kann Deutschland einfach? Zuletzt – nämlich ganz konkret bei der Abprüfung von Nachhaltigkeitspräferenzen bei Versicherungsanlageprodukten der Schicht 3 – sind ab 2.8.2022 die Versicherungsvermittler in der Erklärerrolle.
Das heißt, das Informationsdefizit wird durch Vermittler geschlossen.
Lösungsmöglichkeit aus Sicht des Beirats: die Bereitstellung von Informationen und entsprechendes Ausrichten der Bildungspolitik.
2. Es fehlt an Geld für das Vorsorgesparen
Selbst wenn die Bevölkerung vollumfänglich über die Chancen und Risiken von Kapitalmärkten informiert wäre, könnte eine Rechtfertigung für eine staatliche Intervention in der Liquiditätsbeschränkung bei Investitionen am Kapitalmarkt liegen.
Ein Haus lässt sich auf Kredit kaufen; dieser Kredit wird dann mit den späteren (Arbeits-)Einkommen getilgt. Vergleichbares ist bei Anlagen am Kapitalmarkt in der Regel nicht möglich, da Finanzinstitutionen finanzielle Vermögenswerte nicht im selben Umfang wie Immobilien als Sicherheiten für Kredite akzeptieren. Insofern könnte diese Liquiditätsbeschränkung zu einer Unterinvestition und Verzerrung zuungunsten der Anlagen am Kapitalmarkt führen.
Wenn der Staat einen Fonds bereitstellt und sich die dafür benötigten Mittel später über Steuern zurückholt, ersetzt er gleichsam diesen fehlenden Kreditmarkt. Studien zeigen, dass die Partizipation am Kapitalmarkt in Deutschland wie in anderen Ländern positiv korreliert mit Vermögen. Verschiedene empirische Studien zeigen zudem, dass Anlagerenditen positiv korreliert sind mit dem Vermögen der Anleger: Wohlhabende Anleger erzielen deutlich höhere Renditen als weniger wohlhabende Anleger … Besonders die über die letzten Jahre zu verzeichnenden signifikanten Aktienrenditen und eine gleichzeitig weitgehend ausbleibende Verzinsung bei Sicht- und Spareinlagen können damit zu einer Vergrößerung der Vermögensungleichheit führen, der der Staat mit einem Angebot für die nicht am Kapitalmarkt investierten Bevölkerungsschichten entgegnen möchte.
Lösungsansatz des Beirats: Der Staat könnte einen Kredit gewähren, der dann in einem regulierten, breit diversifizierten Portfolio angelegt wird, das vor dem Zugriff des Anlegers geschützt ist. Bei Renteneintritt würde das Portfolio aufgelöst und der Kredit zurückgezahlt; eine Sparpflicht wäre hier nicht nötig. Der Beirat will hierzu keine Empfehlung abgeben, da es dazu noch keinen wissenschaftlichen Konsens gibt.
Das Altersvorsorgekonto sorgt für wundersame Geldvermehrung
So könnte das in der Praxis aussehen: Der Staat nimmt Kredite über niedrigverzinsliche Staatsanleihen auf, gibt sie den Erwerbstätigen, die das Ganze diversifiziert (also insbes. in Aktien) anlegen, und am Ende darf der Erwerbstätige den „Übergewinn“ behalten. Hier ein Szenario des Beirats, der noch weitere Szenarien adressiert:
Eine Möglichkeit, diese Renditedifferenz auszunutzen, besteht darin, Altersvorsorgekonten für jeden Erwerbstätigen einzurichten. Diese Konten werden durch eine einmalige staatliche Einlage bei Eintritt in die Erwerbstätigkeit und durch laufende Eigenbeiträge während des Erwerbslebens befüllt. Über einen langfristigen Investitionshorizont bis zum Eintritt in das Rentenalter können dann die Möglichkeiten einer breit diversifizierten Anlage im Kapitalmarkt genutzt werden. Beim Renteneintritt würde die zu Beginn des Erwerbslebens bereitgestellte staatliche Finanzierung zurückgezahlt. Die Differenz zwischen den über die Jahrzehnte erzielten Erträgen aus dem Kapitalmarkt und dem Zinsdienst für die hier ausgegebenen Staatsanleihen verbliebe neben den eigenen Beiträgen als Vermögensbestand und könnte für eine Erhöhung der Altersbezüge genutzt werden.
Zwischenruf
Hier stellt sich in der Praxis allerdings sofort die Frage: Kann Deutschland einfach? Zuletzt – nämlich ganz konkret bei der Abprüfung von Nachhaltigkeitspräferenzen bei Versicherungsanlageprodukten der Schicht 3 – sind ab 2.8.2022 die Versicherungsvermittler in der Erklärerrolle.
Das heißt, das Informationsdefizit wird durch Vermittler geschlossen.
3. Die Überwindung des sogenannten Samariter-Dilemmas
Ein dritter Grund für einen regulierenden Eingriff des Staates und die Einführung einer verpflichtenden Teilnahme kann die Überwindung eines Samariter-Dilemmas sein. Die ersten beiden möglichen Gründe für eine staatliche Intervention liegen im Fehlen von Informationen oder von Liquidität, berücksichtigen aber keine Anreize zur privaten Vorsorge.
Zwischenfazit
Die „Vorfinanzierung“ der Beiträge zur Altersversorgung durch einen Staatskredit ist kreativ, führt aber zu staatssystematischen Fragen und verschiebt die Rückzahlung in die Zukunft.
Der Beirat geht davon aus, dass immer in langfristigen Anlagehorizonten Gewinne entstehen, die über dem Zinssatz der Staatsanleihen liegen (konkret rechnet der Beirat Beispiele mit einer Renditedifferenz von 2,5 und 3 %). Jeder, der schon etwas länger in der Finanzberatung tätig ist, weiß, dass das kein Selbstläufer ist, sondern harte Arbeit von Kapitalmarktprofis und hohe Aktien-Engagements bedeutet. Und diese Profis brauchen Regeln, aber keine Überregulierung. Das wird schwierig in Deutschland.
Eine Vorfinanzierung des Staates löst zwar das Beitragsproblem für Niedrigverdiener, löst aber wiederum Folgeprobleme aus, insbes. die insgesamt wahrscheinlich höchst bürokratische Regelung des Ganzen. Denn „einfach“ könnte ja die eine Zahnarztgattin begünstigen.
Die durchaus sehr zielgenau auf Niedrigverdiener ausgerichtete Zulagenförderung der bisherigen Riester-Rente wird übrigens nicht thematisiert.
Denn diejenigen, die – wegen geringer gesetzlicher und betrieblicher Renten – am stärksten vorsorgen sollten, haben die geringsten Anreize zur Teilnahme, weil der Staat niedrige Alterseinkünfte aus sozialpolitischen Gründen aufstockt. Durch eine Sparpflicht kann sich der Staat aus dem Dilemma befreien, auch denen zu helfen, die die Möglichkeit zur Vorsorge aus freien Stücken ungenutzt gelassen haben.
Möglicherweise trifft dieses Samariter-Dilemma nicht nur auf die Grundsicherung im Alter zu, sondern auch auf Alterseinkommen, die über diesem Niveau liegen. Der Druck auf die Politik, auch höhere Renten in Relation zu den Löhnen nicht absinken zu lassen, ist gewaltig. Da die Haushalte diese Haltung des Staates vorhersehen, sind die Anreize, selbst vorzusorgen, ineffizient niedrig. So spricht der Namensgeber Walter Riester davon, dass mit einer verpflichtenden Teilnahme 40 Millionen Geförderte hätten unterstützt werden können – und nicht nur die heutigen 16,5 Millionen Geförderten.
Um das Samariter-Dilemma zu überwinden, muss der Staat indes keinen allgemein verpflichtenden, eigenen Fonds auflegen, sondern die Sparpflicht nur für diejenigen durchsetzen, die nicht aus anderen Quellen ein Mindestniveau an Alterseinkünften erreichen. Dabei geht es vor allem um Gruppen mit niedrigen Einkommen.
Lösungsansatz: Im Fall des Samariter-Dilemmas ist die Sparpflicht das essentielle Element, während die Art der Anlage eine nachgeordnete Rolle spielt.
Das Samariter-Dilemma
Das Samariter-Dilemma ist ein Szenario aus der Spieltheorie. Übersetzt geht es darum, dass der Staat den Hilfsbedürftigen hilft. Der Hilfsbedürftige könnte die Hilfe nutzen, um seine Situation zu verbessern, oder er verlässt sich auf die künftigen Staatshilfen durch den Samariter-Staat. Für ihn gibt es keinen Anreiz, auf die Hilfe des Samariter-Staates zu verzichten.
Überlegungen des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium zur Altersvorsorge. Mehr dazu finden Sie im Teil 2.